Drei Jahre später
Montag, 7. März 2016.
Mehr als drei Jahre sind vergangen. Endlich – ich schreibe wieder. Es waren schlimme Jahre. Rückblickend war es die schwerste Zeit meines Lebens.
Natürlich waren wir gezwungen umzuziehen. Jetzt habe ich immerhin ein helles Fenster vor meinem Schreibtisch – mit einem weiten Blick auf das Schloss von Ronneburg. Allabendlich winkt es mir aus der Ferne, orange leuchtend im warmen Licht des Abendrotes, zu. Da klingt mir Ronneburg fast wie Wonneburg. So will ich es denken. Wenigstens für heute.
Aber heute kann ich auch mit Gewissheit sagen: Gott sei Dank sind wir damals den Jean-Paul-Weg gewandert, denn jetzt könnten wir es nicht mehr. Peters Sprunggelenkverletzung musste zweimal operiert werden. Sie ist zwar verheilt, doch es bildete sich ziemlich schnell eine schwere Arthrose. Die schmerzt. Täglich. Bis heute. Das heißt, jeden Tag Schmerztabletten zu nehmen. Ist nicht gut für den Magen. Eine Gelenkversteifung zögern wir hinaus. Was würde danach passieren? Würde es besser werden oder noch schlimmer? Heute kann Peter gerade einmal einen Kilometer gehen, dann ist Schicht im Schacht. Wie froh sind wir da, wenigstens noch diese Wanderung gemeinsam unternommen zu haben. Sie war sehr schön – und für uns doch nur zu diesem einen Zeitpunkt so möglich.
Jetzt leben wir nicht mehr in Oberfranken, sondern in dem Bergmannstädtchen Ronneburg bei Gera in Thüringen. Also etwas weiter vom Jean-Paul-Weg entfernt. Äußerlich.
Was ist in diesen drei Jahren passiert? Viel. Viel ganz Schlimmes. Aber auch – wieder ein »Gott sei Dank« eingestreut – unendlich Schönes. Zunächst einmal zog uns Peters Gehbehinderung schlagartig die Existenz unter den Füßen weg. Einen Ersatzkameramann zu buchen, rechnete sich nicht. Alleine konnte ich die Filmproduktion nicht weiterführen. Wäre es ein Arbeitsunfall gewesen, hätten wir keine Probleme gehabt. Aber so bedeutete es für uns Selbstständige schweren Herzens den Gang zum Jobcenter und Antrag auf Leistungen nach dem ALG II. Die Leistungen wurden zunächst gewährt.
Peter war noch immer krankgeschrieben, aber ich sollte mich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bewerben – was als wenig erfolgversprechend angesehen wurde, schon allein wegen meines Alters und meines Berufes. Zusammen mit dem Jobcenter wurde dann die Idee eines Cafés entwickelt – der »Kaffeestube MärchenWinkel«, mit mir als selbstständiger Betreiberin. Die Kaffeestube wurde sogar vom Jobcenter als Projekt gefördert. Was hier gut klingt, entpuppte sich jedoch nur als einmaliger, projektgebundener Zuschuss von eintausend Euro. Für das Jobcenter war ich damit aus der Arbeitslosenstatistik verschwunden.
Mit dem »exorbitanten« Jobcenter-Budget zauberten wir aus unseren bisherigen Geschäftsräumen im denkmalgeschützten Häuschen eine märchenhafte Kaffeestube. Sämtliche Ausstattung hatten wir aus Secondhandläden zusammengesucht. Zum Highlight wurden die von mir selbst gebackenen Kuchen. Die nach Weihnachtsgewürzen duftende Linzer Torte oder der gedeckte Apfelkuchen mit reichlich Butter und Zimt lösten tatsächlich Begeisterungsstürme aus – aber die Mehrarbeit war reinste Selbstausbeutung. Peter, der mit seinem Fuß eigentlich krank war, half natürlich mit, denn allein kann niemand eine Kaffeestube stemmen. Dazu kam, dass diese – für mich – neue Existenzgründung ja auch eine Existenzgründung aus dem Krankenstand heraus war. Denn schon seit Langem litt ich unter dieser extremen Schlaflosigkeit. Nur – niemand sah das. Niemand konnte helfen. Wir machten einfach weiter.
Auf uns völlig Erschöpfte kam also ein zusätzliches enormes Arbeitspensum zu: den Schnittplatz abbauen, unendlich viel Technik rausreißen, Kaffeestube und Backstube einrichten – ganz schnell, die Miete läuft ja weiter, und wann kommen die nächsten Einnahmen? Eine rundumlaufende Stubenbank schreinern, Geschirr und Gardinen besorgen, Gastronomiebürokratie – Neuland für uns –, Lebensmittel verwalten, servieren lernen, welche Öffnungszeiten? Rezepte suchen, das Landratsamt will immer wieder was, immer mehr Vorschriften. Peter hat Schmerzen, läuft trotzdem, Auto kaputt, Stress, Buchhaltung monatlich fürs Jobcenter, Zusammenbrüche, ich Karpaltunnelsyndrom, Operation, Peter Sehnenscheidenentzündung, Arm so dick, dass ich nicht mehr hinschauen kann, Gäste aus der Nachbarschaft trudeln ein, mit denen wir vorher nie so warm ins Gespräch kamen, Schauspieler vom Theatersommer finden hier ein Zuhause mit Kuchen, und Veganer bei uns ihren Salat. Endlich sind wir nicht mehr so einsam …
Und dann, irgendwann, breche ich endgültig zusammen. Ich weiß noch, wie ich abends die Treppe zur Wohnung heulend hinaufkroch – und in mir der Gedanke hochkam, einzig und gewaltig entschieden: Ich kann nicht mehr. Jetzt ist Schluss!
Am nächsten Tag sperrten wir die blaue Tür unserer kleinen Kaffeestube nicht auf – und das nie wieder.
Die Konsequenz war ein gigantischer Umzug aus dem großen gemieteten Haus in eine kleine Wohnung – unseren Mitteln entsprechend. Wie wir Filmequipment und Kaffeestubeneinrichtung zusammenschrumpften, daran kann ich mich nicht mehr erinnern – wie bei einem Trauma. Jetzt verarmen wir wirklich. Aber wir sind behütet verarmt – so fühlt sich das heute für mich an. Wer hätte das gedacht? Klein und warm und sicher. So war es nie in meinem ganzen Leben. Fidel unter meinem Schreibtisch, Peter neben mir über Fotos vertieft, schöne, sechzig helle Quadratmeter, ebenerdig, kuschelig, direkt neben glücklichen Hühnern.
Und die größte Luxusmaschine, genannt Zeit, legt unablässig Sekunde für Sekunde sanft in meine Hände. Nein, sie wirft sie, gleich einer Ballwurfmaschine, unaufhörlich und stetig, unversiegbar und leise surrend, als große Ewigkeiten in unser Universum, um so getrost, im Ausguck eines neuen Lebens und mit einem alle Fernen überwindenden Tubus telescopius ausgestattet, schon am Horizont den neuen, noch unsichtbaren Gefährten aufzuwarten.
Und jetzt, aus dieser Heiligkeit heraus, kann ich mich in reinstes jeanpaulsches Stubenglück stürzen und weiterschreiben.
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