Wünsche für meinen Freund
»[…] Engel der Freundschaft! – vielleicht bist du der vorige Engel (Engel der Tränen und der Geduld)? .... ach! .... Dein himmlischer Flügel hülle Sein Herz ein und wärm’ es schöner, als die Menschen können – ach, du würdest auf einer andern Erde und ich auf dieser weinen, wenn an einem kalten Herzen Sein heißes, wie am gefrierenden Eisen die warme Hand, anklebte und blutig abrisse! .... O bedeck Ihn; aber wenn du es nicht kannst, so sag mir Seinen Jammer nicht!
O ihr immer Glücklichen in andern Welten! euch stirbt nichts, ihr verliert nichts und habt alles! – Was ihr liebt, drückt ihr an eine ewige Brust, was ihr habt, haltet ihr in ewigen Händen. – Könnt ihrs denn fühlen in euren glänzenden Höhen droben, in eurem ewigen Seelenbunde, daß die Menschen hienieden getrennt werden, daß wir einander nur aus Särgen, eh’ sie untersinken, die Hände reichen, ach, daß der Tod nicht das einzige, nicht das Schmerzhafteste ist, was Menschen scheidet? – Eh’ er uns auseinandernimmt, so drängt sich noch manche kältere Hand herein und spaltet Seele von Seele –– und dann fließet ja auch das Auge, und das Herz fällt klagend zu, ebensogut als hätte der Tod zertrennt, wie in der völligen Sonnenfinsternis so gut wie in der längern Nacht der Tau sinkt, die Nachtigall klagt, die Blume zuquillt!
– Alles Gute, alles Schöne, alles, was den Menschen beglückt und erhebt, sei mit meinem Freunde; und alle meine Wünsche vereinigt mein stilles Gebet.
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Ich tue sie alle mit, nicht bloß für Gustav (die Hauptfigur des Romans), sondern für jeden Guten, den ich kenne, und für die anderen auch.«
Jean Paul »Die unsichtbare Loge«
Engel der Freundschaft! Vielleicht bist du derselbe wie der »Engel der Tränen und der Geduld« von zuvor? Wenn ja – bitte, hülle meinen Freund in deinen himmlischen Flügel und wärme sein Herz. Wärme es auf eine Weise, wie es kein Mensch vermag. Du würdest auf einer anderen Erde weinen – und ich auf dieser –, wenn sein heißes, liebendes Herz an einem kalten, gefühllosen festhielte. Dann wäre das, als würde eine warme Hand an gefrorenem Eisen festfrieren – und würde beim Losreißen blutig verletzt. Bitte beschütze ihn davor. Und wenn du das nicht kannst, dann sage mir lieber gar nicht, wie sehr er leidet.
Und ihr, die ewig Glücklichen in anderen Welten! Euch stirbt nichts, ihr verliert nichts – ihr habt alles! Was ihr liebt, drückt ihr an eine ewige Brust. Was ihr besitzt, haltet ihr in ewigen Händen. Aber könnt ihr da oben, in euren glänzenden und beständigen Höhen, überhaupt verstehen, was wir Menschen hier unten auf der Erde durchmachen? Dass wir einander verlieren – nicht nur durch den Tod? Manchmal reichen wir uns gerade noch über den Rand eines Sarges hinweg die Hände, ehe jemand endgültig verschwindet. Könnt ihr verstehen, dass nicht einmal der Tod das Einzige und Schlimmste ist, was Menschen voneinander trennt. Es ist das schleichende Auseinandergehen – wenn wir uns innerlich fremd werden, wenn kalte, gleichgültige Kräfte unsere Verbindung zerstören, Seele von Seele gespaltet wird. Dann fließen Tränen, dann bricht das Herz – genauso als hätte der Tod es getan. So wie in völliger Sonnenfinsternis oder während einer langen Nacht der Tau fällt, die Nachtigall klagt und die Blume sich schließt.
Alles Gute, alles Schöne, alles, was den Menschen Freude und Erhebung bringt, möge bei meinem Freund sein. Und all meine Wünsche fasse ich zusammen – in einem stillen Gebet.
Und nicht nur für Gustav bete ich so, sondern für alle guten Menschen, die ich kenne – ja, auch für die anderen.
Jean Paul beschreibt auf tief empfundene Weise, wie empfindlich und verletzlich das Herz eines Menschen ist – besonders das eines Freundes, dem man verbunden ist. Er bittet den »Engel der Freundschaft«, diesen Freund vor seelischem Leid zu schützen, insbesondere vor der schmerzhaften Erfahrung, dass Liebe an Kälte stößt. Das Bild der anfrierenden Hand steht für die seelische Verwundung, die entsteht, wenn warmes Gefühl auf Gefühlskälte trifft – und daran verzweifelt.
Er stellt außerdem eine existenzielle Frage: Warum sind menschliche Beziehungen so zerbrechlich? Warum verlieren wir einander – nicht nur durch den Tod, sondern durch emotionale Entfremdung, Gleichgültigkeit, Kälte? Und ist das nicht sogar schlimmer als der Tod?
Jean Paul richtet diese Gedanken in eine höhere Sphäre – zu Engeln, zu einem Jenseits, in dem ewige Liebe möglich ist. Es ist auch ein Vorwurf: Die himmlischen Wesen mögen das Glück ewig besitzen – aber können sie den Schmerz derer verstehen, die auf der Erde einander verlieren?
Trotz dieser Klage endet der Text hoffnungsvoll und zärtlich: Mit einem stillen Gebet für den Freund – und letztlich für alle Menschen, gute wie weniger gute.
Jean Paul zeigt, wie verwundbar das menschliche Herz ist – besonders in der Liebe und Freundschaft. Er beklagt, dass Menschen einander oft nicht nur durch den Tod, sondern schon vorher durch Kälte, Gleichgültigkeit oder seelische Entfremdung verlieren. Das ist für ihn manchmal noch schmerzhafter als der Tod selbst.
Er bittet um Schutz für seinen Freund – nicht nur körperlich, sondern seelisch. Und er macht klar: Wahre Nähe ist zerbrechlich, und der Schmerz eines geliebten Menschen ist auch der eigene.
Der Engel der Freundschaft ist ein Bild für eine schützende, überirdische Kraft, die das Herz des Freundes wärmen soll – mehr, als es ein Mensch kann.
Das Bild von der festfrierenden Hand am kalten Eisen steht für seelische Verletzung: Wenn ein warmherziger Mensch an einem kalten, abweisenden Menschen »hängenbleibt«, wird er beim Losreißen verletzt, sogar »blutig«.
Jean Paul betont: Nicht nur der Tod trennt Menschen, sondern auch Entfremdung, Gleichgültigkeit, Missverständnis – vielleicht sogar mehr noch.
Der Kontrast zur »anderen Welt« (die zweite Welt, eine Art Jenseits oder himmlischer Zustand) macht das Leid der irdischen Welt besonders sichtbar: Dort gibt es keine Trennung, keinen Verlust, nur ewige Nähe und Liebe.
Und schließlich: Die Versöhnung durch das Gebet. Er betet nicht nur für den einen Freund, sondern für alle, auch für die, die nicht gut sind. Das ist radikal mitfühlend.
Sei behutsam mit der Seele eines anderen. Liebe und Freundschaft sind zart und verletzlich – Menschen können einander sehr weh tun, auch ohne es zu wollen.
Wahrer Schmerz ist nicht immer Tod – sondern Entfremdung. Das Auseinandergehen durch emotionale Kälte trifft uns manchmal noch tiefer als der Abschied durch den Tod.
Sehnsucht nach einer besseren Welt. Jean Paul glaubt (oder hofft) auf eine andere, zweite, ewige Welt – in der Liebe nicht zerreißt, sondern für immer bleibt. Diese Welt kontrastiert er mit der oft kalten Realität der Erde.
Gebet als universelle Geste des Mitgefühls. Am Ende weitet sich der Blick: Es geht nicht nur um meinen Freund – sondern um alle Menschen. Um Menschlichkeit überhaupt.
Jean Paul appelliert an unsere Mitmenschlichkeit, an das tiefe Mitfühlen mit anderen, und an die Wertschätzung wahrer Nähe. Seine Sprache ist emotional, bildreich und aufrichtig – nicht nüchtern analysierend, sondern existentiell fühlend. Er spricht vom Schmerz, aber auch von Hoffnung. Und letztlich sagt er:
»Verliert einander nicht.«
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